Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Südukraine richtet eine Katastrophe an. Die Bekannte einer in Holzhausen lebenden Ukrainerin hilft dabei, Menschen unter Beschuss zu evakuieren.
(Video: Am Tag nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms werden Bewohner aus einem überfluteten Viertel in Cherson evakuiert. Aus die Bekannte von Anastasia, einer in Holzhausen lebenden Ukrainerin, half vor Ort.)Es war ein Ereignis, das viele Menschen wachgerüttelt hat. Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms und die schlimmen Bilder von Überschwemmungen in der Region Cherson holten den Schrecken des Krieges in Europa auch für die Menschen in Deutschland wieder ins Bewusstsein. Die große Spenden- und Hilfsbereitschaft zu Kriegsbeginn, die in der Zwischenzeit enorm nachgelassen hat, kehrt langsam wieder zurück. Doch angesichts der großen ökologischen Katastrophe müsste es noch mehr werden, findet etwa die Friedensgruppe Siegen.
In der Region Cherson leben mehr als eine Million Menschen. Spuren der Verwüstung sieht man überall entlang des Dnjpers. Die Folgen sind verheerend. Tausende Menschen verloren ihre Heimat. Ungefähr zwei Autostunden von Cherson entfernt liegt Krywyi Rih, die Heimatstadt von Anastasia, die seit mehr als einem Jahr in Holzhausen lebt.
Anastasias Eltern sind in der 600.000-Einwohner-Stadt geblieben. Für sie hat sich die Situation enorm verschlechtert. Seit der Staudamm-Zerstörung ist das Trinkwasser gelbstichig. Bisher war die Stadt weitgehend von Beschuss verschont geblieben. Seit mehreren Wochen schlagen regelmäßig nachts Raketen ein.
Anastasias Vater ist in der Nachbarschaft gut vernetzt. Auf einer Spazierrunde mit Hund "Pfirsich" hat er Menschen kennengelernt, die bei einer Hilfsorganisation arbeiten und insgesamt vier Personen aus den überfluteten Gebieten gerettet haben. Die Organisation aus Krywyi Rih nennt sich "Viking". In vorderster Reihe steht dort Valeria Baturko, eine ehemalige Profi-Gewichtheberin. Nur wenige Stunden nachdem der Staudamm am 6. Juni zerstört worden ist, war die 28-Jährige mit markantem Schmetterlingstatoo bereits im Überschwemmungsgebiet mitten in der Großstadt Cherson. Per Videocall berichtete sie der Siegener Zeitung, was sie an diesem Tag erlebt hat. Anastasia übersetzt aus dem Ukrainischen ins Deutsche.
"Wir sind schon früh morgens nach Cherson aufgebrochen. Da sahen wir schon Wassermassen, wo vorher noch Felder waren", erzählt Baturko. Während der Autofahrt organisierte sie ein Boot, mit dem die 28-Jährige, ihr Mann und weitere Helfer Menschen aus den überfluteten Gebieten evakuierten. In Cherson habe das Wasser mehr als vier Meter hoch gestanden, sagt Baturko. Zweistöckige Hochhäuser waren komplett unter Wasser.(Foto: Valeria Baturko)
Die Situation vor Ort war alles andere als einfach - und gefährlich. Das Stadtgebiet links des Dnjepers ist von Russland okkupiert. Andere Teile der Stadt sind von der Ukraine zurückerobert worden. "Als wir evakuiert haben, hörten wir Schüsse. Es sind sogar Leute auf den Booten verletzt worden", sagt Baturko.Wieso hat sie sich diesen Gefahren ausgesetzt? "Ich hätte nie gedacht, dass ich hier bleiben würde, sollte mal Krieg ausbrechen. Aber am 22. Februar letzten Jahres war mir sofort klar, dass ich helfen will - helfen muss", sagt die Sportlerin. In den weiteren Tagen nach der Staudamm-Flut kam Viking immer wieder nach Cherson. "Die Menschen waren da schon evakuiert. Doch ganz viele haben ihre Tiere zurückgelassen", berichtet Baturko. Die Helfer brachten also Transportboxen mit und holten bis heute 38 Hunde und Katzen aus dem Überschwemmungsgebiet.
Baturko erinnert sich an eine Situation, als sie und ihr Team eigentlich Tiere aufspüren sollten, dann aber eine blinde Frau aus einem mehrstöckigen Haus rufen hörten. Sie wollte ihre zehn Katzen und ihren Dackel nicht zurücklassen. Mit einer improvisierten Rutsche aus dem Fenster holte Baturkos Mann die Blinde aus dem Gebäude. Ihren Dackel wollte die Frau dabei nicht aus dem Arm geben.Mittlerweile ist sie bei Verwandten untergebracht. Den Dackel hat sie behalten. Die zehn Katzen sind an neue Besitzer vermittelt worden.
Rund zwei Wochen nach der Katastrophe steht das Wasser in Cherson immer noch einen halben Meter hoch. Rund 1,5 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Fläche in der Region droht die Verwüstung, weil das Bewässerungssystem zerstört ist. Vielerorts gibt es kein Trinkwasser mehr. Menschen, die in den Kommunen rund um den leergelaufenen Dnjeper Stausee leben, müssen täglich ihren Ausweis vorzeigen, um eine Tagesration von zwei Litern Wasser zu bekommen.
Da werden Feuchttücher oder haltbare Lebensmittel, die man nicht mit Wasser waschen oder zubereiten muss, plötzlich extrem wichtig. Ebenso wie Tabletten zur Wasserentgiftung oder Medikamente gegen Durchfall und Erbrechen.
Unterstützung in dieser Form soll es auch aus Siegen geben. Die Friedenstruppe arbeitet im Moment wieder daran, einen Transporter zu organisieren und voll zu machen.
Wie die Vorsitzende Tatyana Pankowska berichtet, gehe das natürlich schneller, wenn die Spendenbereitschaft steigt, Die Sammelstelle der Friedensgruppe (Marienhütte 8) nimmt mittwochs (12-16 Uhr) und freitags (8-12) Hilfsgüter entgegen.
Dieser Artikel stammt von Nico Tielke und erschien am 21.06.2023 in der Siegener Zeitung.