Der
Schlüssel, der alle Türen öffnet
Angenommen, es gäbe einen Gegenstand,
der Dir die absolute Kontrolle über Dein Leben gibt. Du brauchst nur
etwas Bestimmtes zu denken und es wird sofort wahr. Die ganze Welt
stände Dir offen: Reichtum, Macht, eine glückliche Beziehung –
einfach alles! Du willst berühmt, unverschämt erfolgreich oder
einfach nur der glücklichste Mensch auf Erden sein? Kein Problem!
Stell es Dir vor und es geschieht.
Ein solcher Gegenstand steht im
Mittelpunkt unserer Geschichte: die mysteriöse Schriftrolle. Doch
nicht der Besitz dieser Rolle verleiht Dir grenzenlose Macht. Du
musst ihren Inhalt kennen, ihren Sinn verstehen und ihn in der
rechten Weise anwenden. Dann öffnen sich Dir alle Türen.
Doch wer sie hat, ist in Gefahr! Manche
wissen von dieser Rolle und jagen ihr unerbittlich nach. Skrupellose
Zeitgenossen stellen alles auf die Beine, um sie in ihren Besitz zu
bekommen. Sie schrecken vor nichts zurück. Auch nicht vor Mord!
Aber es gibt auch
vom Schicksal berufene aufrichtige Menschen. Diese Helden versuchen
mit allen Kräften zu verhindern, dass die Schriftrolle in die
falschen Hände gerät. Und sie arbeiten daran, den verborgenen
Schatz der Schriftrolle vollständig zu entschlüsseln. Wenn die Zeit
gekommen ist, wollen sie ihn den Menschen offenbaren. Alle Bewohner
dieses Planeten sollen davon profitieren. Keiner bräuchte mehr arm
zu sein und niemand müsste mehr leiden. Die ganze Welt würde sich
verändern!
Prolog
Maro gehörte bestimmt nicht zu denen,
die man einen Feigling nennen würde. Als geübter Schwertkämpfer
wich er keiner Auseinandersetzung aus, wenn es darauf ankam. Trotz
seiner jugendlichen achtzehn Jahre hatten die Menschen großen
Respekt vor seinen Kampfkünsten. Doch nun hatte sogar selbst er
Angst.
Heute tauchten plötzlich Fremde in
seinem japanischen Heimatort auf. Was wollten die Leute in diesem
verschlafenen Dorf auf der Insel Hokaido? Acht Männer kamen auf
Pferden geritten. Sie waren allesamt schwarz gekleidet, trugen Helme
und waren mit Schwertern bewaffnet. Fünf von ihnen hatten außerdem
Gewehre, die übrigen drei einen Bogen mit Köcher und Pfeilen darin.
Sie machten mitten im Ort halt und redeten miteinander, so leise,
dass niemand der Dorfbewohner ihre Worte verstehen konnte.
Währenddessen blieben sie auf ihren Pferden sitzen.
Maro hatte den Eindruck, dass sie ihn
beobachteten. Er bekam schweißnasse Hände. Sein Herzschlag raste
wie ein Pferd, das vor einem Waldbrand flieht. Die Erinnerungen an
die Worte seines Großvaters bewirkten einen stechenden Schmerz in
seinen Schläfen: „Eines Tages werden sie kommen. Es werden
erprobte und gefährliche Kämpfer sein. Sie werden mit allen Mitteln
versuchen, es sich zu holen. Niemals darf das geschehen! Sollte es in
ihre Hände geraten, würden sie großes Unheil über unser Land
bringen“.
Nun hatte Maro es eilig, nach Hause zu
kommen. Hastig schwang er sich auf sein Pferd und ritt davon. Das
Haus, in dem er mit seinem Großvater lebte, befand sich außerhalb
des Dorfes inmitten eines Waldgebietes. Mit normalem Reittempo
benötigte er eine knappe Stunde, um vom Dorf nach Hause zu gelangen.
Heute sollte deutlich weniger Zeit verstreichen. Er trieb sein Pferd
dermaßen an, dass Ross und Reiter schnaufend durch die Wälder zu
fliegen schienen. Zwischendurch sah sich Maro immer wieder um. Er
hatte das Gefühl, verfolgt zu werden, konnte jedoch niemanden
entdecken. „Wahrscheinlich bilde ich es mir nur ein“, dachte er
bei sich.
Zu Hause angekommen brachte Maro sein
Pferd in den Stall und nahm den Sattel herunter. Er verzichtete
jedoch darauf, sich weiter um das Pferd zu kümmern, wie er es sonst
tat, und eilte schnell ins Haus. Gerade in dem Augenblick, als er die
Tür schließen wollte, sah er von Weitem die acht schwarzgekleideten
Männer heranreiten. „Sie sind gekommen, Großvater. Sie kommen, um
es zu holen.“ „Maro, bitte verriegle nicht die Tür! Ich will
nicht, dass sie eingeschlagen wird und ich sie anschließend ersetzen
muss.“ „Aber dann wären die Männer doch direkt in unserem
Haus“, rief Maro panisch wie verwundert. „Warum sollen wir es
ihnen leicht machen, anstatt sie aufzuhalten? Wollen wir ihnen nicht
Widerstand entgegen setzen, so gut wir können?“ Der alte Mann sah
seinem Enkel ruhig in die Augen: „Unser Widerstand wird anderer
Natur sein. Achte darauf, dass Du nicht an den Rand des Raumes
gelangst und keinesfalls das Haus verlässt. Bleib immer in meiner
Nähe, dann bist Du sicher.“
Maro kam nicht dazu, über die Worte
seines Großvaters nachzudenken, denn bereits im selben Augenblick
stürmten die Männer durch die Tür. Maro stellte sich neben seinen
Großvater in die Mitte des Raumes. Zwei der Männer blieben in der
Nähe der Tür stehen. Einer der beiden war von einer breiten Narbe
gezeichnet, die vom linken Ohr bis zum Mundwinkel reichte. Die
übrigen sechs Schwarzgekleideten rannten auf Maro und seinen
Großvater zu. Als sie bis auf drei Schritte an sie herangekommen
waren, fielen sie plötzlich ohne erkennbaren Grund zu Boden.
Ein Mann richtete sich auf und bewegte
sich erneut Richtung Raummitte. Und wieder geschah das Gleiche. Es
war, als würde er gegen eine unsichtbare Wand laufen. Ein anderer
tastete die Stelle in der Luft ab, an der er abgeprallt war. Doch da
war nichts. Eigentlich ist „abgeprallt“ nicht das richtige Wort,
denn keiner der Männer stieß gegen etwas Hartes. Es war eher so,
dass sie zu Boden gezogen wurden. Einer der Männer erhob sein
Schwert und schlug gegen diese unsichtbare Wand. Das Schwert fiel mit
lautem Krachen zu Boden. Nun nahm der mit der Narbe sein Gewehr,
zielte auf den Großvater und drückte ab. Auch die Kugel konnte das
Kraftfeld nicht durchdringen und landete drei Schritte entfernt von
seinem Ziel auf einem Teppich.
„Alter Mann, noch versteckst Du Dich
hinter Deinem Zauber. Doch irgendwann werden wir Dich ohne diesen
erwischen. Dann entkommst Du uns nicht mehr“, brüllte der Narbige
voller Zorn. „Du kannst mir nichts anhaben, selbst wenn Du direkt
vor mir stündest“, erwiderte der Großvater gelassen. Der Kämpfer
mit der Narbe wurde noch wütender: „Was redest Du da? Nie könntest
Du gegen mich bestehen.“ Der alte Mann schmunzelte: „Wir können
es gerne auf einen Versuch ankommen lassen, wenn wir Euch dann
anschließend los sind.“ „Und wie stellst Du Dir das vor?“,
rief einer der Männer. „Ich lasse einen von Euch in das Kraftfeld
hinein. Nur ihn und sein Schwert. Er soll dann tun, was er vermag.
Die Bedingung ist, dass alle übrigen in der Nähe der Wand bleiben.“
Der Mann mit der Narbe schien der
Anführer zu sein. Er gab einem, der alle anderen im Raum um
mindestens eine Kopflänge überragte, ein Zeichen. Die übrigen
Männer traten einige Schritte zurück. Während der Riese langsamen
Schrittes auf die Raummitte zuging, sprach der Großvater zu seinem
Enkel: „Stell Dich hinter mich! Schau in die entgegengesetzte
Richtung, so dass sich unsere Rücken gegenseitig berühren! Beweg
Dich nicht und warte einfach ab!“ Der große Mann ging direkt auf
den Großvater zu. Auf einmal gab es keine unsichtbare Wand mehr, die
ihn zurückhielt. Der Kämpfer hob sein Schwert, zielte auf den Kopf
des Großvaters und schlug zu.
Was nun geschah, versetzte die acht
Männer in Erstaunen. So etwas hatten sie noch nie gesehen. Obwohl
das Schwert direkt auf den Kopf des Großvaters zu schnellte, traf es
nicht. Wie von einer unsichtbaren Kraft gelenkt, glitt das Schwert am
Körper des Großvaters vorbei. Auch Maro war vom Geschehen
fasziniert, obwohl er die Schläge des Kämpfers nicht direkt sehen
konnte. Er bekam nur mit, wie das Schwert seitlich an ihm
vorbeistreifte. Der Riese versuchte es erneut mit Hieben und Stichen
von allen Seiten. Doch es war vergeblich. Das Schwert berührte weder
den Großvater noch Maro. Völlig entmutigt ging der große Mann zu
den anderen und sprach zum Anführer: „Was sollen wir nun tun? Wie
können wir unter Deines Bruders Augen treten, ohne seinen Auftrag
ausgeführt zu haben?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete der mit
der Narbe verärgert und ängstlich zugleich.
Nachdem die acht Männer davongeritten
waren, stellte Maro fest: „Sie haben also im Auftrag gehandelt. Ihr
wahrer Anführer war nicht unter ihnen. Es ist der Bruder des
Narbigen.“ „Ich weiß“, entgegnete der Großvater. „Du kennst
ihn?“, fragte Maro überrascht. „Ich habe ihn gesehen, ohne ihm
je begegnet zu sein“, erklärte der Großvater. „Wie ist das
möglich?“, verwunderte sich Maro. Der alte Mann erwiderte mit
ruhigem Ton: „Vor einigen Jahren hatte ich eine Vision, in der ich
die heutigen Ereignisse sah. Ich wusste, dass dies im 17. Jahr der
Herrschaft von Reigen geschehen würde, welches die Menschen des
Westens Anno Domini 1680 nennen. Der genaue Tag war mir jedoch nicht
bekannt.“
„Wie konnte das alles geschehen,
dieses unsichtbare Kraftfeld und dass uns das Schwert des Riesen
nicht treffen konnte? Welche Magie hat das bewirkt?“, wollte Maro
wissen. Der Großvater lächelte sanft: „Es hat mit dem zu tun, das
sich dort befindet.“ Er wies mit seiner Hand auf eine alte Truhe,
die rechts hinter ihm an der Wand stand. „Da drinnen befindet sich
das Geheimnis, wonach die Männer gesucht haben. Die Truhe mit ihrem
Inhalt erhielt ich von meinem Lehrmeister Takeo, bevor er starb. Er
brachte mir alles bei, was ich heute vermag. Dazu gehören viele
Dinge, welche andere Menschen für unmöglich erachten. Unsichtbare
Kraftfelder zu errichten ist nur eines davon.“
„Darf ich mehr darüber wissen?“,
fragte Maro neugierig. Der Großvater nickte: „Nun ist der Tag
gekommen, an dem Du alles erfahren sollst. Und schon morgen werde ich
beginnen, Dich alles zu lehren, was ich weiß und kann. Ich bin
inzwischen alt geworden. Wenn ich diese Welt verlasse, sollst Du der
Hüter des Geheimnisses sein und diese Truhe an Dich nehmen. Heute
werde ich Dir vom Leben meines Meisters Takeo berichten. Du sollst
wissen, was in der Vergangenheit geschehen ist und ihre Bedeutung für
Gegenwart und Zukunft verstehen. Warte einen Moment, Maro!“
Der Großvater erhob sich und verließ
den Raum. Nach einigen Minuten kam er mit einer Kanne und zwei
Trinkgefäßen zurück. „Nehmen wir erst mal einen Tee zu uns.“
Er schüttete ein, beide nahmen ihr dampfendes Gefäß und nippten
vorsichtig am heißen Getränk. Dann folgte ein Augenblick des
Schweigens, den der Großvater nach einigen Minuten durchbrach. Er
überreichte Maro ein gezeichnetes Bild und begann mit seiner
Erzählung.
Samurai
der goldenen Schlange
Dies
ist der große Samurai Takeo in jungen Jahren. Damals hatte er eine
schwarze Haartracht und trug einen Oberlippenbart. Als ich ihn
kennenlernte, war er bereits grauhaarig und vollbärtig. Wie
es für Samuraii
üblich war, trug
er in seinem Gürtel ein Katana und ein Wakizashiii.
Beide Schwerter hatte er gemeinsam mit der Schneide nach oben durch
den Gürtel gesteckt, in einem Winkel, der dem Gegner die Länge der
Klinge verbergen sollte.
Das Bild entstand kurz vor einem
denkwürdigen Kampf. Niemand konnte Takeo bis zu diesem Zeitpunkt
besiegen. Doch dieser Kampf sollte anders werden als alle, die er je
bestritten hatte. Denn nun traf er auf einen ebenbürtigen Gegner.
Allerdings hätte schon ein früherer Kampf für Takeo verhängnisvoll
enden können. Die Narbe an seinem rechten Auge erinnert an dieses
Geschehen. Aus dieser Auseinandersetzung stammte auch eine weitere
tiefe Narbe oberhalb seines rechten Knies, die allerdings hinter
seiner Kleidung für andere nicht erkennbar war. Auf diesen
bedeutungsvollen Kampf werden wir später noch zurückkommen.
Beginnen wir nun mit der Geschichte von
Takeo und Isamu, zwei glorreichen Samurai. Seit ihrer Kindheit waren
sie die besten Freunde. Nichts konnte sie entzweien. Selbst härteste
Herausforderungen vermochten sie nicht in die Knie zu zwingen. Sie
hatten große Pläne, wollten große Taten vollbringen. Doch dann kam
der Tag, der alles zunichtemachte. Der Tag der Katastrophe! An dem
Tag geschah, was nie passieren durfte. Und die Folgen waren
schwerwiegend. Einer war von Neid zerfressen, der andere versank in
tiefste Schwermut. Für einen der beiden bedeutete es schließlich
das Ende.
iDie
japanische Samurai Kaste entstand im 12. Jahrhundert. Zu dieser Zeit
entstand auch das japanische Shogunat, ein System militärischer
Führer. Unter dem Shogun war die nächst niedrigere Hierarchie der
Daimyo, lokale Herrscher, die mit europäischen Fürsten zu
vergleichen sind. Die Samurai waren die militärischen Diener eines
Daimyo. Das Wort „Samurai“ bedeutet „Diener“, oder auch
„Begleiter“.
(Quelle: www.akataiyou-no-nihon.com)
iiDas
Katana ging im 15. Jahrhundert aus dem Tachi
太刀
(langes
Schwert)
hervor und wurde ab Ende des 14. Jahrhunderts (frühe
Muromachi-Zeit)
traditionell von japanischen Samurai
verwendet, vor allem in Kombination (Daishō
大小,
groß-klein)
mit dem kurzen Wakizashi
脇指
(shōtō
小刀,
kleines
Schwert).
Das Katana ist ein zum Rücken hin gebogenes anderthalbhändiges
Schwert mit einer Klinge von über zwei Shaku Länge (das sind circa
60,6 cm) und einem Griff von unterschiedlicher Länge. Es wiegt
ungefähr 750 bis 1000 Gramm. Ein Schwert mit einer Klinge mit
weniger als zwei Shaku ist ein einhändiges Wakizashi (oder Shōtō
= Kurzschwert) und eine mit weniger als ein Shaku
ein Kampfmesser (Tantō,
Aikuchi,
Hamidashi).
(Quelle:
Wikipedia)
Bilder: © Tatjana Strauch