|
Krywyj Rih, Ukraine |
Anastasia ist 22 Jahre alt und kommt aus Krywyj Rih, einer Großstadt, die etwas südlich des ukrainischen Zentrums liegt. Es ist mit etwas mehr als 600.000 Einwohner die achtgrößte und von den Abmessungen her die längste Stadt der Ukraine, denn die am weitesten entfernten Punkte liegen 126 Kilometer auseinander. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist in der Stadt geboren und seine Eltern leben immer noch dort. |
Anastasia als Zwölfjährige mit ihrem Vater |
Der Vater von Anastasia hatte seiner Tochter nahegelegt, die Ukraine zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen. Er war früher Unteroffizier in der ukrainischen Armee und aufgrund der jüngsten Entwicklungen in ihrer Gegend wusste er genau, was die Stunde geschlagen hat. Anastasia dachte allerdings überhaupt nicht daran, die Ukraine zu verlassen. Sie wollte lieber für ihre Familie da sein und dort Unterstützung leisten, wo diese benötigt sonst wird. Es war wichtig, die Bevölkerung und die Armee mit Medikamenten und Lebensmitteln zu versorgen, da wollte sie sich einbringen. Die Mutter war hin- und hergerissen und hat viel geweint, denn sie wollte einerseits ihr einziges Kind nicht gehen lassen und andererseits ihre Tochter in Sicherheit wissen.
|
Der erste Schultag mit Mama |
Zwei Wochen lang haben die Drei über dieses Thema diskutiert und gestritten, geweint und geschimpft. Letzten Endes hat sich der Vater durchgesetzt, indem er Tatsachen geschaffen hat: Er organisierte einen Fahrer und diesen hatte er bereits bezahlt, damit er Anastasia zur polnischen Grenze fahren sollte. Der dafür aufgewendete Betrag entsprach einem halben Monatseinkommen in der Ukraine. Eines morgens forderte der Vater Anastasia auf, sofort ihre nötigsten Sachen zusammenzupacken, denn der Bus würde um 12 Uhr aufbrechen. Er wusste, dass die russische Armee kurz davor war, die Stadt zu umzingeln. Jeder weitere Tag des Wartens hätte die Chancen auf eine Flucht verschlechtert und vielleicht sogar unmöglich gemacht. Schließlich hat Anastasia sich dem Druck ihres Vaters gebeugt und hat sich auf den Weg gemacht.Wovor die Eltern von Anastasia am meisten Angst hatten, war der Hunger! Es gibt Orte in der Ukraine, die sind von der Versorgung abgeschnitten und die Menschen haben teilweise schon tagelang nichts mehr gegessen. Ansonsten war die Angst zu sterben, nicht sehr groß. Sollte es passieren, dann wäre es eben so. Sie sahen es so, dass sie im Wesentlichen ihr eigenes Leben gelebt haben, doch ihre Tochter ist die Zukunft – sie soll weiterleben, das bedeutet ihnen viel!
|
Das einzige Foto von Anastasias Flucht |
Als sich Anastasia auf den Weg in eine noch ungewissen Zukunft machte, hatten alle Drei Angst! Es war keine Angst vor dem, was sie in Deutschland erwarten würde, dort käme sie mit ihren guten Sprachkenntnissen sicher zurecht. Doch was könnte unterwegs alles passieren?! Es ist leider vorgekommen, dass russische Soldaten Züge oder Busse mit Flüchtlingen angegriffen haben. Deshalb ging es erst einmal darum, wohlbehalten über die Grenze zu kommen. 12 Stunden hat es gedauert und Anastasia war in Polen – 12 Stunden mit großem Zittern und die erste wichtige Etappe war geschafft! In der Zeit danach bis zur Ankunft am Zielort, hatte Anastasia ihre Angst komplett ausgeblendet – sie kam sich irgendwie vor wie eine Darstellerin in einem Action-Film.Wir hatten für Anastasia eine Familie in Siegen vorgesehen, bei der sie ein eigenes Zimmer bekommen hätte. Unsere Info war, dass sie in den frühen Morgenstunden mit dem Bus in Köln eintreffen sollte und von dort hätte sie einen Zug nach Siegen nehmen müssen. Da der Busfahrer aber wusste, dass sie nach Siegen wollte und dies auf dem Weg lag, hatte dieser sie direkt in Siegen abgesetzt. Meine Frau bekam nachts um 1 Uhr einen Anruf, dass Anastasia bereits am Siegener Hauptbahnhof war. Die Gastfamilie konnten wir um diese Zeit nicht mehr erreichen, also mussten wir improvisieren. Meine Frau und ich wohnen in einem Fachwerkhaus, gemeinsam mit meiner Stieftochter, ihrem Mann und ihren beiden Kindern. Wir haben in der unteren Etage eine kleine Wohnung und die Familie oben eine größere. Nun wurde oben in Kinderzimmer Platz geschaffen, damit Anastasia einen Schlafplatz hatte.
Am anderen Tag sollte sie zur Gastfamilie nach Siegen gefahren werden. Sie druckste so eigenartig rum, aber wollte nicht so richtig raus mit der Sprache. Meine Frau hatte sie dann dazu gebracht, sich zu äußern und sie sagte ihr dann sehr verunsichert, dass sie lieber bei uns bleiben würde, weil sie zu uns Vertrauen hätte. Irgendwie fühlte es sich für uns richtig an, Anastasia diese Bitte zu gewähren. Eigentlich war es anders geplant und meine Stieftochter wollte ein Zimmer für eine Frau mit einem oder zwei Kindern bereitstellen. Im Nachhinein betrachtet, hätte uns nichts besseres passieren können, als Anastasia aufzunehmen: Da sie Deutsch spricht, ist sie nun mittendrin in unserer "Flüchtlingshilfe" und hat die Rolle als Dolmetscherin. Es hat für die traumatisierten Flüchtlinge eine beruhigende und vertrauenserweckende Wirkung, wenn jemand in ihrer Muttersprache die Dinge vermittelt.
|
Anastasia beim Bachelor-Abschluss |
Dieser Verlauf hat sich also für alle als wahrer Glücksgriff herausgestellt. Das ist aber noch nicht alles: Anastasia hat in der Ukraine ihr Grundstudium in Pädagogik absolviert und einen Bachelor-Abschluss erworben, in Deutschland würden wir „Lehramt“ sagen. Wir haben schon geklärt, dass sie ihr Studium in Deutschland fortsetzen kann, denn sie möchte noch ihren Master machen. Und aus dieser Tatsache heraus, ergibt sich der nächste Glücksfall: Es werden hier dringend Leute gesucht, die die ukrainischen Kinder unterrichten, denn die müssen ja weiter zur Schule. Anastasia war in der Ukraine als Lehrerin in einer Art Volontariat eingesetzt und hat in einer Grundschule Englisch, Deutsch und Literatur unterrichtet. Das nächste Tätigkeitsfeld wartet also schon auf sie und sie freut sich darauf. 😊
|
Anastasia unterrichtet an einer Schule in der Ukraine
|
|
Deutschunterricht in der Ukraine
|
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen