Montag, 28. April 2014

Die Wahrheit (Teil 3) - Blick über den Tellerrand

“Weil wir so überzeugt sind von der Richtigkeit unseres Urteils, leugnen wir Beweise, durch die dieses Urteil infrage gestellt wird. Auf diese Weise gelangt man zu nichts, was es verdienen würde, Wahrheit genannt zu werden.”
(Mariliynne Robinson)

“Was ist Wahrheit?” Diese Frage stellte schon Pontius Pilatus, als er Jesus verhörte. Gibt es überhaupt “die Wahrheit”? Wenn ja, sind wir imstande, diese in vollem Umfang zu erkennen, oder sehen wir maximal einen Teilausschnitt? Existiert die “objektive Wahrheit” oder schaffen wir Menschen uns ohnehin immer nur unsere eigene subjektive Wahrheit? Wenn ich für mich die Wahrheit gefunden habe, wie gehe ich dann mit den Wahrheiten der anderen um, wenn diese sich von meiner unterscheiden oder sogar im Widerspruch zu ihr stehen?

Ich glaube nicht, dass es einfache Antworten auf diese Fragen gibt. Wenn ich hier nun meine Sicht der Dinge darlege, dann resultiert diese aus den gewachsenen Erkenntnissen meiner gelebten Erfahrungen.

Bevor ich loslege kommt noch ein Hinweis: Einiges aus diesem Beitrag könnt Ihr nur verstehen, wenn Ihr die Geschichte aus “Die Wahrheit (Teil 1) - Die Fenster des Turmes” gelesen habt. Falls Ihr das noch nicht getan habt, solltet Ihr Euch diesen Beitrag zuerst ansehen, anschließend “Die Wahrheit (Teil 2) - Das spirituelle Outing” und erst danach hier weiterlesen.

Als ich etwa 30 Jahre alt war, entdeckte ich meine Leidenschaft fürs Reisen. Die ersten zehn Jahre hatte ich eine besondere Vorliebe für “Rucksackreisen”, bei denen ich kreuz und quer durch verschiedene Länder zog. Neben zahlreichen Touren in Europa war ich auch vier Mal in Nordafrika, zwei Mal in Lateinamerika und außerdem in den USA, Thailand und Israel. Wenn ich an meine Erlebnisse auf einer nahezu einsamen Insel zwischen Kreta und Libyen denke, oder meine Rafting-Tour durch den Dschungel Costa Ricas, bekomme ich leuchtende Augen. Manchmal hatte ich das Glück, Dinge zu erleben, zu denen “normale” Touristen keinen Zugang haben. In Mexiko lernte ich Einheimische kennen. Ich durfte bei ihnen wohnen und nahm am mexikanischen Alltagsleben teil.

Sphinx und PyramidenTotal abgefahren war mein Urlaub in Ägypten. Als einziger Ausländer fuhr ich in einem Bus von Kairo ans Rote Meer. Neben mir saß ein junger Ägypter namens Hassan, der beruflich in Hurghada zu tun hatte. Er traf sich dort mit zwei Architekten, die für dieselbe Firma arbeiteten wie er. Abends saß ich mit den drei Ägyptern zusammen, und einer von ihnen forderte mich auf, etwas Musik zu machen, weil ich meine Gitarre dabei hatte. Ich spielte ein paar Songs, und die Jungs waren begeistert. Hassan machte mir einen Vorschlag, den ich nicht ablehnen konnte. Ich sollte mit meiner Musik auf der Hochzeit eines Freundes auftreten.

Meine geplante Tour in den Süden Ägyptens verkürzte ich um einige Tage, damit ich wieder rechtzeitig für die Hochzeitsfeier in Kairo war. Was ich dann erlebte, werde ich nie vergessen. Mein Auftritt bestand aus mehreren kurzen Sets und ich spielte im Wechsel mit einer arabischen Band. Das Publikum war bei meinen Liedern total aus dem Häuschen. Besonders bei “La Bamba” flippten sie regelrecht aus. Ich gab mindestens vier Zugaben. Die Leute riefen zwischendurch immer wieder “Arriba”, und ich wusste, jetzt wollten sie schon wieder “La Bamba” hören. Möglicherweise war es einer meiner besten Auftritte, mit Sicherheit aber der außergewöhnlichste. Aber unabhängig von der Musik, war es für mich ein einmaliges und unvergessliches Erlebnis, auf dieser ägyptischen Hochzeit mitfeiern zu dürfen.

Die letzten 1 ½ Wochen meines Urlaubs verbrachte ich in Kairo. Hassan lud mich ein, währenddessen bei seiner Familie zu wohnen. Auch diese Tage werden immer in meiner Erinnerung bleiben. Zum einen war ich sehr berührt von der unglaublichen Gastfreundschaft seiner Familie und den Spaß, den wir miteinander hatten. Außerdem hatte ich noch nie vorher in so kurzer Zeit so viele interessante Gespräche. Eines der Hauptthemen war die politische Situation im Nahen Osten. Ich war gerade zu der Zeit in Ägypten, als kurz zuvor der Irak seinen Nachbarstaat Kuwait überfiel. In allen Diskussionen gab es niemanden, der das Verhalten Saddam Husseins billigte - ganz im Gegenteil: Die Ägypter waren einhellig der Meinung, dass das Verhalten Husseins nicht nur falsch war, sondern Schande über die gesamte islamische Welt brachte.

Das absolute Topthema in unseren Diskussionen war allerdings die Religion. Mir wurden überaus viele Fragen über den christlichen Glauben gestellt, und ich erhielt meinerseits einen guten Einblick über den Islam. Wir fanden manche Gemeinsamkeiten und stellten auf der anderen Seite deutliche Unterschiede in unseren religiösen Auffassungen fest. Auch wenn wir nicht immer mit der Position unseres Gegenübers einverstanden waren, verliefen unsere Diskussionen immer friedlich und waren von gegenseitiger Achtung und Respekt gekennzeichnet.

Selbst mein leidenschaftlicher Disput mit einem Imam stellte kein Problem dar, und wir konnten uns trotz unterschiedlicher Ansichten anschließend wieder freundschaftlich trennen. Ich habe aus diesen Gesprächen vor allem eines mitgenommen: Trotz unterschiedlicher und sogar gegensätzlicher Positionen kann man viel voneinander lernen, wenn man offen für den anderen ist.

Uns Deutschen werden im Allgemeinen Tugenden wie Disziplin, Produktivität und ein hohes Maß an planerischem und organisatorischem Geschick nachgesagt. Auf der anderen Seite werden wir im Ausland oft als stur, unflexibel und verbissen gesehen. Nun ja, ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen und habe dadurch natürlich eine ordentliche Portion gesellschaftlicher und kultureller Prägung abbekommen. Daran ist im Grunde nichts verkehrt, und diese Prägung bestimmt einen Teil meiner Identität.

Wenn ich als Deutscher auf meinen Reisen in fremde Kulturen eintauche, dann kann ich dadurch meinen eigenen Horizont maßgeblich erweitern. Vieles, was ich in anderen Ländern erlebt habe, hat mein eigenes Leben positiv beeinflusst, sei es die arabische Gastfreundschaft, die strahlende Laune der Menschen Südostasiens, oder die heitere Leichtigkeit des Life-Styles Lateinamerikas. Werde ich dadurch selbst zum Ägypter oder Thailänder? Wenn ich einiges aus anderen Kulturen übernehme, verliere ich dadurch meine Identität als Deutscher? Nein, auf keinen Fall!

Wende ich jedoch das gleiche Prinzip auf meine Spiritualität an, wird das komischerweise von einigen “frommen Christen” nicht akzeptiert. Da ist dann von “Religionsvermischung” die Rede, oder von einer angeblich unklaren Position gegenüber denen, welche “die Wahrheit des christlichen Glaubens” nicht erkannt haben. Dieser Tunnelblick hat aber nach meiner Auffassung nichts mit dem ursprünglichen Wesen des christlichen Glaubens zu tun, sondern mehr mit dem Pharisäertum, das auf die “Reinheit der eigenen Lehre” besonderen Wert legte.

Meine Identität als Deutscher bleibt unverändert, wenn ich von anderen Kulturen lerne und einige ihrer Verhaltensweisen übernehme. Genauso bleiben meine spirituellen Wurzeln in Christus begründet, auch wenn ich gerne über den Tellerrand schaue, von anderen Weltanschauungen lerne und sich mein eigenes Weltbild dadurch erweitert. Wir sollten uns dessen bewusst sein, dass wir immer nur ein Teil des Ganzen erkennen können. Paulus hat das im 1. Korintherbrief sehr treffend ausgedrückt:

“Denn unsere Erkenntnis ist bruchstückhaft ebenso wie unser prophetisches Reden. Wenn aber das Vollkommene - das Reich Gottes da ist, wird alles Vorläufige vergangen sein. Als Kind redete, dachte und urteilte ich wie ein Kind. Jetzt bin ich ein Mann und habe das kindliche Wesen abgelegt. Noch ist uns bei aller prophetischen Schau vieles unklar und rätselhaft. Einmal aber werden wir Gott sehen, wie er ist. Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke, doch einmal werde ich alles klar erkennen, so deutlich, wie Gott mich jetzt schon kennt.”

Der etwas andere BlickwinkelDu kannst Dich drehen und wenden, wie Du willst: Aus Deiner Perspektive heraus gelingt es Dir immer nur einen Bruchteil des Gesamten zu erkennen. Leider machen manche aber häufig den Fehler, diesen Teilausschnitt für das Ganze zu halten und alle übrigen Perspektiven als falsch darzustellen. Die Menschen in der Geschichte “Die Fenster des Turmes” haben anfangs nur die eigene Position verteidigt und die der anderen abgelehnt. Im Laufe der Zeit haben sie sich für die Möglichkeit geöffnet, dass die Kollegen noch etwas sehen könnten, was sie aus ihrem eigenen Blickwinkel heraus nicht erfassen konnten. Zuletzt haben sie sogar soviel Vertrauen zueinander entwickelt, dass sie gemeinsam eine Leiter zum Himmelsfenster gebildet haben, und sie konnten so für einen Moment die gesamte Landschaft betrachten.

Ich glaube an Gott und an Jesus Christus. Es ist die Wahrheit, eine vorzügliche Wahrheit - die Wahrheit eines Fensters. Ich freue mich darauf, immer mehr über die Dinge zu erfahren, die man durch die anderen Fenster sehen kann.

Fotos © PIXELIO
“Sphinx und Pyramiden” von Irene Lehmann

“Der etwas andere Blickwinkel” von Ulla Trampert

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