“Weil wir so überzeugt sind von der Richtigkeit unseres Urteils,
leugnen wir Beweise, durch die dieses Urteil infrage gestellt wird. Auf
diese Weise gelangt man zu nichts, was es verdienen würde, Wahrheit
genannt zu werden.”
(Mariliynne Robinson)
“Was ist Wahrheit?” Diese Frage stellte schon Pontius Pilatus, als er
Jesus verhörte. Gibt es überhaupt “die Wahrheit”? Wenn ja, sind wir imstande, diese in vollem Umfang zu erkennen, oder sehen wir
maximal einen Teilausschnitt? Existiert die “objektive Wahrheit” oder
schaffen wir Menschen uns ohnehin immer nur unsere eigene subjektive
Wahrheit? Wenn ich für mich die Wahrheit gefunden habe, wie gehe ich
dann mit den Wahrheiten der anderen um, wenn diese sich von meiner
unterscheiden oder sogar im Widerspruch zu ihr stehen?
Ich glaube nicht, dass es einfache Antworten auf diese Fragen gibt.
Wenn ich hier nun meine Sicht der Dinge darlege, dann resultiert diese
aus den gewachsenen Erkenntnissen meiner gelebten Erfahrungen.
Bevor ich loslege kommt noch ein Hinweis: Einiges aus diesem Beitrag könnt Ihr nur verstehen, wenn Ihr die Geschichte aus “Die Wahrheit (Teil 1) - Die Fenster des Turmes” gelesen habt. Falls Ihr das noch nicht getan habt, solltet Ihr Euch diesen Beitrag zuerst ansehen, anschließend “Die Wahrheit (Teil 2) - Das spirituelle Outing” und erst danach hier weiterlesen.
Als ich etwa 30 Jahre alt war, entdeckte ich meine Leidenschaft fürs
Reisen. Die ersten zehn Jahre hatte ich eine besondere Vorliebe für
“Rucksackreisen”, bei denen ich kreuz und quer durch verschiedene Länder
zog. Neben zahlreichen Touren in Europa war ich auch vier Mal in
Nordafrika, zwei Mal in Lateinamerika und außerdem in den USA, Thailand
und Israel. Wenn ich an meine Erlebnisse auf einer nahezu einsamen Insel
zwischen Kreta und Libyen denke, oder meine Rafting-Tour durch den
Dschungel Costa Ricas, bekomme ich leuchtende Augen. Manchmal hatte ich
das Glück, Dinge zu erleben, zu denen “normale” Touristen keinen Zugang
haben. In Mexiko lernte ich Einheimische kennen. Ich durfte bei ihnen
wohnen und nahm am mexikanischen Alltagsleben teil.
Total
abgefahren war mein Urlaub in Ägypten. Als einziger Ausländer fuhr ich
in einem Bus von Kairo ans Rote Meer. Neben mir saß ein junger Ägypter
namens Hassan, der beruflich in Hurghada zu tun hatte. Er traf sich dort
mit zwei Architekten, die für dieselbe Firma arbeiteten wie er. Abends
saß ich mit den drei Ägyptern zusammen, und einer von ihnen forderte
mich auf, etwas Musik zu machen, weil ich meine Gitarre dabei hatte. Ich
spielte ein paar Songs, und die Jungs waren begeistert. Hassan machte
mir einen Vorschlag, den ich nicht ablehnen konnte. Ich sollte mit
meiner Musik auf der Hochzeit eines Freundes auftreten.
Meine geplante Tour in den Süden Ägyptens verkürzte ich um einige
Tage, damit ich wieder rechtzeitig für die Hochzeitsfeier in Kairo war.
Was ich dann erlebte, werde ich nie vergessen. Mein Auftritt bestand aus
mehreren kurzen Sets und ich spielte im Wechsel mit einer arabischen
Band. Das Publikum war bei meinen Liedern total aus dem Häuschen.
Besonders bei “La Bamba” flippten sie regelrecht aus. Ich gab mindestens
vier Zugaben. Die Leute riefen zwischendurch immer wieder “Arriba”, und
ich wusste, jetzt wollten sie schon wieder “La Bamba” hören.
Möglicherweise war es einer meiner besten Auftritte, mit Sicherheit aber
der außergewöhnlichste. Aber unabhängig von der Musik, war es für mich
ein einmaliges und unvergessliches Erlebnis, auf dieser ägyptischen
Hochzeit mitfeiern zu dürfen.
Die letzten 1 ½ Wochen meines Urlaubs verbrachte ich in Kairo. Hassan
lud mich ein, währenddessen bei seiner Familie zu wohnen. Auch diese Tage werden immer in meiner Erinnerung bleiben. Zum einen war ich sehr
berührt von der unglaublichen Gastfreundschaft seiner Familie und den
Spaß, den wir miteinander hatten. Außerdem hatte ich noch nie vorher in
so kurzer Zeit so viele interessante Gespräche. Eines der Hauptthemen
war die politische Situation im Nahen Osten. Ich war gerade zu der Zeit
in Ägypten, als kurz zuvor der Irak seinen Nachbarstaat Kuwait überfiel.
In allen Diskussionen gab es niemanden, der das Verhalten Saddam
Husseins billigte - ganz im Gegenteil: Die Ägypter waren einhellig der
Meinung, dass das Verhalten Husseins nicht nur falsch war, sondern
Schande über die gesamte islamische Welt brachte.
Das absolute Topthema in unseren Diskussionen war allerdings die
Religion. Mir wurden überaus viele Fragen über den christlichen Glauben
gestellt, und ich erhielt meinerseits einen guten Einblick über den
Islam. Wir fanden manche Gemeinsamkeiten und stellten auf der anderen
Seite deutliche Unterschiede in unseren religiösen Auffassungen fest.
Auch wenn wir nicht immer mit der Position unseres Gegenübers
einverstanden waren, verliefen unsere Diskussionen immer friedlich und
waren von gegenseitiger Achtung und Respekt gekennzeichnet.
Selbst mein leidenschaftlicher Disput mit einem Imam stellte kein
Problem dar, und wir konnten uns trotz unterschiedlicher Ansichten
anschließend wieder freundschaftlich trennen. Ich habe aus diesen
Gesprächen vor allem eines mitgenommen: Trotz unterschiedlicher und
sogar gegensätzlicher Positionen kann man viel voneinander lernen, wenn
man offen für den anderen ist.
Uns Deutschen werden im Allgemeinen Tugenden wie Disziplin,
Produktivität und ein hohes Maß an planerischem und organisatorischem
Geschick nachgesagt. Auf der anderen Seite werden wir im Ausland oft als
stur, unflexibel und verbissen gesehen. Nun ja, ich bin in Deutschland
geboren und aufgewachsen und habe dadurch natürlich eine ordentliche
Portion gesellschaftlicher und kultureller Prägung abbekommen. Daran ist
im Grunde nichts verkehrt, und diese Prägung bestimmt einen Teil meiner
Identität.
Wenn ich als Deutscher auf meinen Reisen in fremde Kulturen
eintauche, dann kann ich dadurch meinen eigenen Horizont maßgeblich
erweitern. Vieles, was ich in anderen Ländern erlebt habe, hat mein
eigenes Leben positiv beeinflusst, sei es die arabische
Gastfreundschaft, die strahlende Laune der Menschen Südostasiens, oder
die heitere Leichtigkeit des Life-Styles Lateinamerikas. Werde ich
dadurch selbst zum Ägypter oder Thailänder? Wenn ich einiges aus anderen
Kulturen übernehme, verliere ich dadurch meine Identität als Deutscher?
Nein, auf keinen Fall!
Wende ich jedoch das gleiche Prinzip auf meine Spiritualität an, wird
das komischerweise von einigen “frommen Christen” nicht akzeptiert. Da
ist dann von “Religionsvermischung” die Rede, oder von einer angeblich
unklaren Position gegenüber denen, welche “die Wahrheit des christlichen
Glaubens” nicht erkannt haben. Dieser Tunnelblick hat aber nach meiner
Auffassung nichts mit dem ursprünglichen Wesen des christlichen Glaubens
zu tun, sondern mehr mit dem Pharisäertum, das auf die “Reinheit der
eigenen Lehre” besonderen Wert legte.
Meine Identität als Deutscher bleibt unverändert, wenn ich von
anderen Kulturen lerne und einige ihrer Verhaltensweisen übernehme.
Genauso bleiben meine spirituellen Wurzeln in Christus begründet, auch
wenn ich gerne über den Tellerrand schaue, von anderen Weltanschauungen
lerne und sich mein eigenes Weltbild dadurch erweitert. Wir sollten uns
dessen bewusst sein, dass wir immer nur ein Teil des Ganzen erkennen
können. Paulus hat das im 1. Korintherbrief sehr treffend ausgedrückt:
“Denn unsere Erkenntnis ist bruchstückhaft ebenso wie unser
prophetisches Reden. Wenn aber das Vollkommene - das Reich Gottes da
ist, wird alles Vorläufige vergangen sein. Als Kind redete, dachte und
urteilte ich wie ein Kind. Jetzt bin ich ein Mann und habe das kindliche
Wesen abgelegt. Noch ist uns bei aller prophetischen Schau vieles
unklar und rätselhaft. Einmal aber werden wir Gott sehen, wie er ist.
Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke, doch einmal werde ich alles klar
erkennen, so deutlich, wie Gott mich jetzt schon kennt.”
Du
kannst Dich drehen und wenden, wie Du willst: Aus Deiner Perspektive
heraus gelingt es Dir immer nur einen Bruchteil des Gesamten zu
erkennen. Leider machen manche aber häufig den Fehler, diesen
Teilausschnitt für das Ganze zu halten und alle übrigen Perspektiven als
falsch darzustellen. Die Menschen in der Geschichte “Die Fenster des
Turmes” haben anfangs nur die eigene Position verteidigt und die der anderen abgelehnt. Im Laufe der Zeit haben sie sich für die Möglichkeit
geöffnet, dass die Kollegen noch etwas sehen könnten, was sie aus ihrem
eigenen Blickwinkel heraus nicht erfassen konnten. Zuletzt haben sie
sogar soviel Vertrauen zueinander entwickelt, dass sie gemeinsam eine
Leiter zum Himmelsfenster gebildet haben, und sie konnten so für einen
Moment die gesamte Landschaft betrachten.
Ich glaube an Gott und an Jesus Christus. Es ist die Wahrheit, eine
vorzügliche Wahrheit - die Wahrheit eines Fensters. Ich freue mich
darauf, immer mehr über die Dinge zu erfahren, die man durch die anderen
Fenster sehen kann.
Fotos © PIXELIO
“Sphinx und Pyramiden” von Irene Lehmann
“Der etwas andere Blickwinkel” von Ulla Trampert
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