Während der erste Teil dieses Thema ziemlich theoretisch und
theologisch war, dann geht es im zweiten Teil um eine gewaltige
persönliche Herausforderung. Sie geht “unter die Haut”, wenn man sie
richtig begriffen hat.
Vor einigen Jahren hatte es mich kurz vor Weihnachten umgehauen, und ich war zwei lang
Wochen krank. An dem schlimmsten Tag meiner Krankheit befand ich mich
mit Fieber in einer Art “Dämmerzustand”. Mein Verstand funktionierte
nicht mehr in der üblichen Weise und trotzdem, oder vielleicht sogar
gerade deshalb, erreichte meine Sinne ein Bild, das mich seitdem nicht
mehr losgelassen hat. Ich kannte die Geschichte von der Kreuzigung sehr
gut und war imstande, alle Einzelheiten und Aussagen wiederzugeben.
Trotzdem kam es mir so vor, dass ich an diesem Tag zum ersten Mal
erfasst habe, was “Vergebung” wirklich bedeutet.
Jesus hat am Kreuz gerufen: “Vater, vergib ihnen, denn sie wissen
nicht, was sie tun!” Wieso sollten die beteiligten Römer und Juden denn
nicht gewusst haben, was sie tun? Waren die denn blöd, oder was? Sie
hatten einen Mann hingerichtet, der sich nie etwas zu schulden kommen
ließ, Menschen in Not half und die Liebe auf eine Weise lebte, wie es
sie kein zweites Mal gab. Ganz so einfach ist das aber nicht. Wenn wir
dieses Ereignis aus der Distanz betrachten, ist es nicht schwer zu einer
realistischen Einschätzung des Sachverhaltes zu kommen.
Die beteiligten Menschen jedoch hatten aufgrund verschiedener
Einflüsse eine verzerrte Wahrnehmung. Es gab einige Drahtzieher, denen
es gelang, das Volk gegen Jesus aufzuwiegeln. Es fing im Kleinen an und
führte dazu, dass bald überall die Rufe “Kreuzigt ihn, kreuzigt ihn!”
erklangen. Sie wirkten als Suggestion wie eine Gehirnwäsche. Vielleicht
haben die römischen Oberbefehlshaber ihren Soldaten vermittelt, dass
Jesus für das Imperium eine Gefahr darstellt und als Verräter und
Volksverführer seiner gerechten Strafe nicht entgehen durfte. Die
ausführenden Menschen waren davon überzeugt, etwas Gutes und Richtiges
zu tun, und waren sich der Tragweite ihres Handelns nicht bewusst. Ihr
Handeln mag böse gewesen sein, ihre Motive waren es jedoch nicht. Jesus
wusste das genau als er rief: “Vater, vergib ihnen, denn sie wissen
nicht, was sie tun!” Er selbst hatte ihnen in diesem Moment bereits
vergeben.
Was fangen wir nun mit dieser Erkenntnis an? Wie integrieren wir
Karfreitag in unser eigenes Leben? Vergeben zu können ist auf jeden Fall
gut, das war mir auch schon früher bereits klar. Durch meine Vergebung
geht es mir selbst besser und auch dem Menschen, dem ich vergebe. Ich
muss mir allerdings eingestehen, dass es mir oft einfach nicht gelang.
Es schien so unsagbar schwer, das konsequent zu praktizieren.
Um zu verdeutlichen, warum das so ist, möchte ich Euch zu einem
Experiment einladen. Stellt Euch eine Situation vor, in der ihr unter
dem Handeln eines anderen Menschen gelitten habt. Dann sagt Ihr den
Satz: “Dieser Mensch hätte anders handeln können und müssen. Er hat mir
absichtlich wehgetan”. Beobachtet dann, was mit Euren Gefühlen
passiert. Wenn Ihr genau darauf achtet, werdet Ihr sogar körperliche
Symptome wahrnehmen.
Bringt Euch danach in einen einigermaßen neutralen Emotionszustand.
Dann begebt Ihr Euch in genau die gleiche Situation, sprecht aber etwas
anderes zu Euch: “Dieser Mensch konnte nicht anders handeln. Er hat sein
Bestes gegeben und hat mir zu keinem Zeitpunkt schaden wollen. Es
wusste nicht, dass er mir weh tut und deshalb trifft ihn keine Schuld.”
Spürt Ihr den gewaltigen Unterschied in Euren Gefühlen?
Richtig vergeben könnt Ihr nur, wenn Ihr Euer Urteil zurücknehmt.
Eure Gefühle sind bisher immer davon ausgegangen, der andere sei ein
richtiges A… und wollte Euch absichtlich etwas Böses antun. Das ist aber
ein Beurteilungsfehler. Ich möchte jetzt nicht missverstanden werden:
Das hier soll keine Aufforderung sein, eine falsche Handlung oder eine
verletzende Tat zu verleugnen oder schön zu reden. Es geht darum, zu
verinnerlichen, welches Motiv hinter dem Handeln steht. Viele Menschen
machen grobe Fehler, wollen aber eigentlich etwas Gutes bezwecken. Sie
sind sich der Tragweite Ihres Handelns nicht bewusst, genauso wie die
Menschen, die Jesus ans Kreuz geschlagen haben. Wenn Ihr diese
Erkenntnis beherzigt, erlebt Ihr eine emotionale Revolution und Ihr
werdet feststellen, dass Vergebung möglich ist.
Fotos © : Dieter Schütz / PIXELIO
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