Draußen vor der Stadt wurde vor undenklichen Zeiten ein Turm gebaut,
siebenundsiebzig Meter hoch und mit sieben Meter dicken Mauern. Dieser
viereckige Turm aber steht in einer seltsamen Landschaft. Denn nach
Norden zu liegt ein Meer, nach Osten fruchtbares, bebautes Land, nach
Süden eine Wüste und nach Westen üppiger Wald. In diesen Turm werden
immer vier Menschen zugleich gebracht, mit verbundenen Augen und im
geschlossenen Wagen. Und sie werden die Wendeltreppe des Turmes
hinaufgeführt bis zu dem einzigen Raum direkt unter der Kuppel. Dieser
Raum hat fünf Fenster, eines nach Norden, eines nach Osten, eines nach
Westen und eines nach Süden, das fünfte aber ist ganz oben in der
Kuppel.
Zu jedem der vier Fenster wird nun ein Mensch gebracht. Versucht aber
einer von ihnen zu einem anderen zu gelangen, so kann er immer nur bis
zur Mitte des Raumes gehen. Dort können die vier sich treffen, die
Grenze zum nächsten aber kann keiner durchbrechen.
So
sehen sie aus ihrem Fenster und der Erste sagt: “Wie schön der Wald ist
und wie viele Vögel sich darüber schwingen!” “Nein, das stimmt nicht”,
sagt der Gegenüberliegende, “der Turm steht inmitten fruchtbarer Felder.
Bald wird das Getreide reif sein zur Ernte.”
Da lacht der vom Südfenster: “Ihr träumt wohl beide, das wäre ja fast
eine Fata Morgana. Nichts ist vor dem Fenster, nichts als Sand und
Steine!” Der vom Nordfenster schüttelt den Kopf: “Ihr irrt euch alle, vor dem
Turm liegt das Meer!” Keiner glaubt dem anderen, jeder hat Recht.
Manchmal ist einer so fleißig und er kriecht durch die dicke Mauer
bis vor zum Fenster, ja er beugt sich sogar noch hinaus. Und er kann ein
klein wenig sehen, ein winziges Stück Land, das rechts von seinem
Fenster liegt, und ein winziges Stück Land, das links von seinem Fenster
liegt, so kann er erahnen, dass seine Nachbarn die Wahrheit sagen, und
ihnen glauben; vom Menschen gegenüber aber kann er gar nichts erfassen.
Ihm kann er nur vertrauen, dass er die Wahrheit sagt. Aber wer kann
glauben, dass auf der einen Seite ein Meer, auf der anderen Seite eine
Wüste ist?
Trotzdem gelingt es immer wieder, dass die vier Menschen so viel
Geduld und Zutrauen zueinander entwickeln, sodass sie sich in der Mitte
treffen und dort nacheinander alle vier aufeinander steigen, um so durch
das Himmelsfenster sehen zu können. Und damit gewinnen sie Glauben.
Denn für einen Augenblick kann jeder nach allen Himmelsrichtungen
schauen, die Wüste erkennen, das Wasser, die fruchtbaren Äcker und den
stillen Wald.
Jetzt glauben sie einander, können Vertrauen gewinnen und Frieden.
Der König freut sich und lädt alle ein, in seiner Stadt zu wohnen.
Quelle: Gerhild Pröls
Foto © :tino / PIXELIO
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