Mein Telefon klingelte. Am Apparat war Herr Güttgemanns. Er wolle in
der Alten Lederfabrik einiges umbauen und hätte diverse Auflagen, den
Brandschutz betreffend und bat mich, ihm zu helfen. Das war im Jahr
2002. Einige Monate später erfuhr ich von einer kulturellen
Veranstaltung in der Alten Lederfabrik. Ich ging hin - und war
überrascht. Nachdem ich einige Galerien passiert hatte, blieb ich erst
einmal im Obergeschoss “hängen”. Dort spielte eine gute Band. Dieser
jazzige Groove gefiel mir ungemein. Danach schlenderte ich durch
verschiedene Ateliers, nahm einen Snack zu mir und trank ein schönes
Glas Rotwein. Ich bin vielleicht nicht der absolute Kunstfreak, aber die
Atmosphäre gefiel mir. Alles war irgendwie “sympathisch urig”. In den
vergangenen Jahren habe ich noch einige weitere Events in der Alten
Lederfabrik besucht. Jetzt wollte ich mehr über die Hintergründe
erfahren und traf mich vor kurzem mit dem Eigentümer, Herrn Jens M.
Güttgemanns.
Udo Michaelis: “Herr Güttgemanns, könnten sie ein wenig über die Historie der Alten Lederfabrik erzählen?”
Jens M. Güttgemanns: “Mein Großvater gründete die Lederfabrik 1912.
Im Jahre 1914 erwarb er das Grundstück Alleestr. 64-66, welches bis zum
Ende der Zwanziger Jahre bebaut wurde. Mein Onkel Egon führte die Firma
von 1926 bis 1979. Ich löste ihn zu einem Zeitpunkt ab, wo das Geschäft
alles andere als einfach war. Nach dem Großbrand 1978 musste der Betrieb
wieder völlig neu aufgebaut werden. Trotzdem gelang es zunächst, in
unserer Marktnische einen bedeutenden Marktanteil zu erzielen. Unsere
Produktpalette umfasste Treibriemen, Rundbänder, Mappenleder,
Schultaschen, sowie Hundehalsbänder und -leinen. Ein Großabnehmer war
das Militär, das wir mit Koppelzeug belieferten. Unser Betrieb geriet
ins Schlingern, als nach der ‘Wende’ von 1989 traditionelle Märkte weg
brachen und bislang an uns vergebene Aufträge an subventionierte
Lederfabriken in der ehemaligen DDR gingen. Nur die Sparte der
Hundesportartikel hielt den Betrieb noch aufrecht, bis er 1993 ganz
eingestellt werden musste.”
“Wie entstand die Idee, Ateliers und Galerien für Künstler einzurichten?”

“Die
Idee kam nicht spontan. Es traten Ereignisse ein, die ich als
‘Fügungen’ bezeichnen möchte. 1993 lernte ich den Diplom-Designer
Matthias Poltrock
kennen, der Räumlichkeiten für seine künstlerische Arbeit suchte.
Später erfuhr ich, dass die Goldschmiedemeisterin Katrin Sielmann eine
Schmuck-Werkstatt einrichten wollte. So vermietete ich ihnen die
erforderlichen Räume, die ich extra nach ihren Vorstellungen erstellte.
2001 wurde ein Event organisiert, wo die beiden ihre Arbeiten einem
größeren Publikum vorstellen konnten. Diese Veranstaltung war ein voller
Erfolg. Mit einem derartigen Andrang kulturinteressierter Leute haben
wir nicht gerechnet. Es war der Beginn eines Künstlertreffpunktes.”
“Von damals zwei bis heute über 30 Künstler ist eine
beachtliche Entwicklung. Haben Sie nach dem Erfolg der Veranstaltung die
Werbetrommel gerührt, um weitere Künstler in die Alte Lederfabrik zu
holen?”

“Das
war gar nicht nötig. Die Vermietung weiterer Ateliers war danach ein
Selbstläufer. Immer mehr Künstler fanden den Weg zu uns. Eine Parzelle
nach der anderen wurde eingerichtet. Ein Kunstverein wurde gegründet. Es fanden regelmäßig Veranstaltungen statt, die vom
Publikum sehr gut angenommen wurden. Eine sehr gute Resonanz brachte
beispielsweise die “Designernacht’, bei der auch auswärtige Künstler
ihre Darbietungen zum Besten brachten. Die Besucher kommen sogar aus
Bremen, Hannover und dem Ruhrgebiet.”
“Leben in Halle überhaupt so viele Künstler, die sich Räume in der Alten Lederfabrik anmieten können?”
“Nicht
alle kommen aus Halle. Wir haben Künstler aus Bielefeld, Dissen und
fast dem gesamten Kreis Gütersloh. Neben unseren Ateliers und Galerien
gibt es zwei Fotostudios, ein
Tonstudio
und eine Initiative, die Musikunterricht anbietet. Manche Künstler
leben ausschließlich von ihrer Arbeit, einige sind semiprofessionell
tätig, wieder andere betreiben es als Hobby.”
“Seit kurzem gibt es auch eine städtische Galerie.”

“Genau, sie wurde am 1. Juni 2008 eröffnet. Die
Stadt Halle
hat schon seit längerer Zeit ein wohlwollendes Interesse an unseren
kulturellen Veranstaltungen gezeigt. Die Räume für Kunst und Kultur
waren früher in unserer Gegend knapp bemessen. Es ist aber der Wunsch
der Stadt, hiesige Künstler zu unterstützen. Jetzt hat man durch
die städtische Galerie in der Alten Lederfabrik ein sichtbares Zeichen
dafür gesetzt. Bei der Eröffnung sagte unsere Bürgermeisterin, Frau Anne
Rodenbrock-Wesselmann: ‘So eine Szene könnte man in Berlin vermuten -
wir haben sie.’ Dadurch erleben wir eine win/win Situation: Gut für die
Künstler und gut für das Ansehen unserer Stadt.”
“Gibt es etwas Besonderes in naher Zukunft?”
(Anmerkung: Da ich die Interviews dieser Reihe bereits im
Jahr 2008 geführt habe, liegt die genannte Aktion inzwischen natürlich in der
Vergangenheit.)
“Vom 28. September bis 31. Oktober 2008 findet bei uns die Aktion
‘KunstOrt Garten’ statt. Knapp 20 Künstler zeigen hier ihre Exponate.
Beworben haben sich über 80 Künstler. Daher hat eine Jury aus Künstlern
und Galeristen ihre Auswahl unter den Bewerbern getroffen.”
“Wenn Sie rückblickend die Ereignisse betrachten, was ist Ihre wichtigste Erkenntnis?”

“Ich
erwähnte bereits, dass die Errichtung der Ateliers anfangs von mir
keineswegs bewusst gesteuert wurde. Es hat sich durch eintretende
Ereignisse gefügt. Nachdem mit der Lederfabrik Schluss war, hätte ich
mir nicht vorstellen können, eine Gerberei zu vermieten. Sicherlich wäre
es auch äußerst unwahrscheinlich gewesen, einen Mieter für das gesamte
Objekt zu finden. Die Lösungen liegen eben oft in nicht in den
Bereichen, die wir vordergründig wahrnehmen. Das Leben bietet uns die
Chancen. Unsere Aufgabe ist es, diese zu erkennen und zu verwirklichen.”
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